Als Zeichen der Kapitulation wehten weiße Fahnen Auszug der Mitteldeutschen Zeitung vom 29.03.1995 Am 12. April 1945, Vormittag, Amerikanische Panzer rollen von Nachterstedt auf der Landstraße in Richtung Schadeleben. Die Straße gibt es nicht mehr. Im Ort herrscht seit Tagen aufgeregte Nervosität. Dumpfe Detonationsgeräusche der Granaten und einzelne Folgen von Maschinengewehrsalven errichten uns aus westlicher Richtung mit ständig wechselnder Intensität. Also vermuteten wir dort die herannahenden Truppen. Unsere Vorstellung wurde durch die, wenn auch spärlichen, Nachrichten des Rundfunksenders noch bestätigt. Und nun, völlig unvorbereitet, wurden wir mit der Tatsache „feindlicher Panzer erreichen den Ort vom Süden“ konfrontiert. Gerüchte durchliefen im Eiltempo die Straßen: Wir müssen uns ergeben, im Ort sind keine deutschen Soldaten, als Zeichen unserer Kapitulation muss eine weiße Fahne aus dem Kirchturmfenster wehen, an den anderen Häusern soll möglichst ebenso verfahren werden. Tore und Türen nicht verschließen! Aus unserem oberen Fenster konnte ich die träge Geschwindigkeit von zwei Kolossen verfolgen. Indessen waren abwechselnd die Augen auf den nahen Kirchturm und auf den Panzer gerichtet. Auch ich wollte ein Zeichen der Kapitulation geben.
Bei der Wahl zwischen einem Taschentuch und einem Kopfkissen entschied ich mich spontan für das „größere Weiß“, auffälliger war das Kopfkissen. Mittag, Erleichterung, aus der Kirchenluke wehte eine Fahne. Eine mutige Geste der drei Schadelebener Bürger Kuntze, Heuke und Fritsche. Jetzt regte es sich auch an den Fenstern der einzelnen Häuser. Unterschiedliches Weiß kam zum Vorschein. In den Orten rollten kampflos die Panzer. Einer hielt unmittelbar vor unserem Haus. Herzklopfen vor den Ereignissen in den nächsten Minuten. Hinter der Gardine starrten wir in Richtung Panzer. Wir, das waren in unserem kleinen Haus insgesamt drei Familien. Eine Frau aus Kevelar und zwei Frauen mit ihren Müttern aus Kleve, die vor Weihnachten 1944 aus dem westlichen Kriegsgebiet evakuiert und vorübergehend in Mitteldeutschland untergebracht waren. Vier Ami-Soldaten sprangen aus der Luke. Zwei davon mit dunkler Hautfarbe. Maschinenpistolen über die Schulter, Messer und Pistole am Koppel, so stießen sie einem Moment später erst das Tor, dann die Tür auf. Eine kurze Frage: „Soldaten?“ Zimmer, auch Schränke wurden geöffnet. Wir verneinten. Zum Zeichen, dass unser Haus kontrolliert war, wurde ein Kreidekreuz ans Tor gemalt. Für uns war das der erste Tag vom Ende eines verheerenden Krieges. An den folgenden Tagen brachte dieses Ende noch Grauen und Schrecken in den Ort. Vereinzelte Gruppen deutscher Soldaten kamen überraschend aus Richtung Aschersleben. Sie versuchten, die aus Friedrichsaue herannahenden Panzer mit Granaten und Panzerfäusten zu stoppen.
Dieser Zwischenfall wurde mit Schüssen aus allen Rohren beantwortet. Dabei gerieten eine massive Feldscheune und ein Schafstall mit hunderten von Tieren in Brand. Nichts konnte gelöscht werden. Von beiden Gebäuden blieben Schutt und Aschenhaufen verkohlte Tierkörper zurück. Fast gleichzeitig näherte sich vom Hakel ein ungeordneter Trupp englischer Gefangener. Entkräftet nach wochenlangem Marsch aus östlichen Lagern hatten sie im Schutz des Waldes ihre sie begleitenden Wachposten entwaffnet und den Weg in die Freiheit in Richtung Schadeleben gewählt. Auf dem Gasthofplatz wurden die halb verhungerten, zerlumpten, verlausten englischen Gefangenen immer in Gruppen auf die Haushalte verteilt. Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass der Ort in großer Gefahr war. Der ungeheuerliche Überfall deutscher Soldaten auf die Panzer wurde von dem Amerikanern nicht so einfach hingenommen. Ein Funkspruch spürte die Angst der Einwohner, „abends, gegen 18 Uhr werden Flugzeuge über dem Ort Bomben abwerfen, es wird freigestellt, den Ort zu verlassen. Handwagen wurden mit dem Nötigsten beladen, und nun hieß es abwarten. Noch hatten wir die Engländer im Haus. In den späten Nachmittagsstunden kam die erlösende Antwort, die alle aufatmen ließ. „Dank den Gefangenen, weil sie gut aufgenommen wurden, gibt es keine Vergeltung.“ Die ersten Tage des 2. Weltkrieges brachten den Anfang einer Zeitspanne in der alle Gesetze außer Kraft waren.