Auszug aus der Mitteldeutschen Zeitung vom 12. April 1995 Ein damals
Fünfzehnjähriger berichtet über die letzte Kriegswoche in der Stadt
Aschersleben. Jeden Tag heulten die Sirenen. Auch an jenem sonnigen
Frühlingsmorgen. Fliegeralarm! Es geht durch Mark und Bein, dieses
Signal, auch wenn du es schon mehr als zweihundertmal im Laufe des
Krieges gehört hast. Und wenn dann der letzte Sirenenton mit einem
abhebenden Brummen verhallt, beginnen sich die Straßen schnell zu
leeren. Die Stadt versinkt in Schweigen. Die Flugzeuggeräusche
werden stärker. Das Dröhnen der Motoren kommt jetzt von vielen
Maschinen. Plötzlich spürst Du deinen Herzschlag. So empfand ich es
als Fünfzehnjähriger am Morgen des 11. April 1945 in Aschersleben.
Zuerst waren Jagdbomber da gewesen, um im Tiefflug Ziele
anzugreifen. Der Sender der deutschen Jagdluftverteidigung, der im
Radio abhörbar war, hatte dann den Anflug von Bombenflugzeugen
gemeldet. Als diese das Planquadrat „Ida-Dora-9“ erreichten, das auf
der Gradnetzkarte die Gegend von Aschersleben markierte, folgen sie
mehr als 3000 Meter hoch: zweimotorige Maschinen, exakt ausgerichtet
in Sechserformationen.
Es mochten Flugzeuge des amerikanischen Typs „Marauder“ sein.
Aschersleben besaß seit geraumer Zeit keine Flugabwehr mehr. Das
erleichterte den Luftangriff auf eine Reihe von Zielen in der Stadt.
Ein vermutliches Angriffsziel war die Bahnstrecke nach Halle, wovon
ich hier berichten will. Als ich unser Haus in der Blumenstraße
gegen neun Uhr verließ, stand der Personenzug aus Halle vor dem
Einfahrtssignal an der Brücke zum Friedhof. Man ließ ihn wegen der
Gefahr aus der Luft nicht mehr in den Bahnhof einfahren. Das sollte
nicht viel später verhängnisvolle Folgen haben. Ein Teil der
Reisenden war ausgestiegen, andere saßen in den Abteilen. Auf dieser
Strecke war bei Fliegeralarm noch nie etwas passiert. In der Nähe
der Molkerei Im Busch beobachtete ich den Bombenabwurf der ersten
Staffel. Es ist schwer zu beschreiben, das Gefühl wenn du siehst,
dass sich unter den Flugzeugen schwarze Pünktchen lösen und vom Wind
getrieben auf dich stürzen. Da bleiben die nur wenige Sekunden, um
deine Überlegungschancen zu nutzen. Ich verkroch mich in die Ecke
des Kellergewölbes eines alten Bauernhauses. Als ich nach der
Detonationsserie wieder ins Freie kam, stand oberhalb der
Lindenstraße/Schierstedter Straße eine riesige Staubwolke. Da lief
ich weg, keuchend und mit klopfenden Herzen, bis in die Westerberge,
wo man sich relativ sicher fühlte.
Als wir am frühen Nachmittag nach Haus wieder zurückkamen, bot die
Gegend an der Blumenstraße ein Bild des Grauens. Der Tod hatte
reiche Ernte gehalten. Die hier abgeworfenen, mehr als dreißig
Sprengbomben, hatten Krater von durchschnittlich acht Metern
Durchmesser gemessen. Das Haus Nr. 16 wurde durch einen Volltreffer
total zerstört. Die Zahl der Opfer konnte man nie genau ermitteln.
In diesem Haus und vor seinem Giebel hatten Reisende aus dem
Personenzug Zuflucht gesucht. Noch im Sommer des Jahres wurden beim
Verfüllen von Bombentrichtern Leichen geborgen. Die Zahl der
Todesopfer auf und vor diesem Grundstück ist auf mindestens
fünfundzwanzig zu schätzen. Auch die umstehenden Häuser hatten
beträchtliche Schäden erlitten. Einige waren ganz oder teilweise
unbewohnbar geworden. Nie werde ich die Worte vergessen, die ich an
diesem Nachmittag aus dem Munde des alten Herrn hörte, Opa seiner
vier bei diesem Luftangriff ums Leben gekommenen Enkel: „Das haben
wir dir zu verdanken, Hitler, jawohl.“